Zischen für die Aufklärung

von Björn Vedder

 

„Seit Eva, der ersten Mutter, sind sie alle Schlangen, 

die mit giftiger Zunge den armen Mann beständig zum Sünden reizen 
und in tiefes Verderben zischen.“

Maler Müller

 

Was Maler Müller in seinem Drama Golo und Genoveva den Ritter Wallrod über die Witwe Mathilde sagen lässt, der er zu seinem Unglück und dem vieler anderer Personen dieses Stücks hoffnungslos verfallen ist,[1] ist ein Topos des christlichen Frauenbildes: Die Frau verführt den Mann zur Sünde, indem sie ihn sinnlich betört. Das sagt freilich auch einiges über das Selbstverständnis des Mannes aus, der schließlich in dieser Hinsicht so leicht verführbar sein muss, dass ein wenig Zischen und Reizen seitens der Frau hinreichen, ihn Böses tun zu lassen. Sein sinnliches Begehren ist sein Wunder Punkt. Wird er dort gepackt, ist er machtlos. Er hat sich dann nicht mehr in der Gewalt, sondern folgt der Frau, die ihn betört, wie eine Eisennadel dem Magneten. Willenlos. Das ist bei Wallrod ganz genauso. Deshalb sieht er keine andere Möglichkeit, um seine Freiheit und mithin auch seine moralische Souveränität wiederzugewinnen, als Mathilde zu ermorden – wäre er dafür nicht zu schwach. Denn als er mit dem Schwert in der Hand in ihr Zimmer tritt, erwartet sie ihn schon mit offener Bluse und offenem Haar und kaum, dass er es berührt, durchbrennt ihn ein „Höllisch Feuer“, das ihn dahinschmelzen lässt. 

Dabei ist es gar nicht Mathildes Leidenschaft, der er verfällt, sondern seine eigene. Mathilde hat diese nur gegen seine Vernunft aufgebracht und das macht sie so gefährlich – und reizvoll. Denn sie liefert ihm einen Grund, nicht vernünftig, standhaft und moralisch sein zu müssen, sondern aus Schwäche unvernünftig sein zu dürfen und in der eigenen Lust zu schwelgen zu. Wie hinreißend das für ihn ist, zeigt sein Monolog unter ihren Küssen: „Giftige unwiderstehliche Schlange! Die mich tausend und tausendfach knüpft! [...] Hör' auf, oh! Dich zu ermorden kam ich her ... ermorden! – Will's noch.

Mathilde: Hattest du so was im Sinn?

[...] Wallrod: O hab ich nicht recht? Hab' ich nicht Alles für dich gethan? Du! Du hast mein Leben weggeschwelgt, meine Jugendblüthe, Stand, Hoffnung, Ehre, was ich vermochte, brachte dir meine Liebe dar. Du nahmst es, schlucktest mich ganz ein, wie eine hungrige Weihe. Alles, Religion, Gewissen! Ich bin das Wachs, worin du deine Schandthaten gedrückt. [...] Ich möchte mich fast selbst beweinen. Dieß Haupt, seiner Jugendlocken um deinetwillen beraubt, gewöhnt des ehrenvollen Helmes! Es ist kein Theil an mir, das nicht über Aufopferung deinetwegen schreyt!“ Und so weiter. Wallrod würde seine Klage noch lange fortsetzen, schlösse ihm Mathilde nicht den Mund mit ihren Lippen und schickte ihn ins Bett. „Zauberin!“, ruft er da noch einmal aus, „Gingest du voran, ich folgte dir nach in die Hölle“ und legt sich mit ihr nieder.[2]

Diese Szene aus einem späten Drama des Sturm und Drang ist sehr aufschlussreich für das von Katrin Kampmann gewählte Thema EXIT PARADISE, weil sie deutlich macht, wie die christliche Tradition in den Bildern von Adam und Eva, dem Sündenfall, der Verführung und der Schlange nicht eigentlich ein Geschlechterverhältnis verhandelt – denn die Figuren agieren im offenen Widerspruch zur schematischen Opposition vom vernünftigen Mann und der leidenschaftlichen Frau –, sondern ein Verhältnis des Menschen zu seiner Leidenschaft und Sinnlichkeit selber. D.h. es gibt in dieser Tradition einen inneren Konflikt zwischen der Vernunft und der Leidenschaft, der in den Figuren vom wackeren, aber schwachen Mann und der dämonischen Verführerin externalisiert wird, aber nur auf der Bildebene von Männern und Frauen handelt, hingegen in der Sache vom Menschen. 

Wenn Kampmann also Eva zeigt, die genüsslich in den Apfel beißt (Eva) oder sich freudig danach reckt, um ihn vom Baum zu pflücken (Sündenfall in 10, 9, 8,...), dann zeigt sie uns Eva als eine Figuration der Sinnlichkeit und Leidenschaft, die untrennbar damit verbunden ist, ein Mensch zu sein. Insofern ist es nicht nur im Sinne der biblischen Überlieferung konsequent, dass Kampmann auch Adam mit dem Apfel (Adam) zeigt. 

Mit dieser Anerkennung ist freilich zugleich eine bestimmte Bewertung verbunden, denn was zum Menschsein dazu gehört, kann nicht vom eigenen Leben abgetrennt oder in ihm unterdrückt werden, ohne dieses Leben zu beschneiden oder zu verstümmeln. Erst, wer auch seine Leidenschaft und Sinnlichkeit akzeptiert, wird also im vollen Sinne zum Menschen. Kampmann zeigt das malerisch – nicht nur in der Wahl der Figuren und Sujets, sondern auch in der expressiven Farbigkeit ihrer Bilder, in der Fläche und Füllung ihrer Schüttungen und im Wuchern und Überlagern der Formen, wie sie etwa die Arbeiten Eure Augen aufgetanNenn es, wie du willst oder Serpentine zeigen. Sie präsentieren sich so auch formal als „Sitz aller Üppigkeit und Wollust“,[3] wie Heinrich Heine einmal über den Venusberg geschrieben hat. 

Diese malerische Lust am Sinnlichen lässt sich bis in die Drucke verfolgen, in denen die Untermalung durch die Konturen des Drucks hindurchschimmert. Dabei tritt jedoch auch die innere Beziehung in den Blick, die das Malerische mit dem Gezeichneten, die Fläche mit der Kontur, die Farbe mit der Linie verbindet und die in der hier entwickelten Analogie für das Verhältnis von Sinnlichkeit und Vernunft oder Körper und Geist steht. Die malerischen Bilder zeigen diese Beziehung im Wechselspiel zwischen den fließenden, teils geschütteten farbigen Flächen und den scharf abgegrenzten weißen Räumen, in die der Betrachter sich selbst eintragen kann, wie es etwa bei der Eva im Bild Sündenfall in 10, 9, 8,... auffällt. Die in den Arbeiten verhandelte Anthropologie wird so auf den Betrachter übertragen. Die formalen Prinzipien der Gestaltung leiten die Rezeption.

Anschaulich wird diese gemalte Anthropologie freilich erst vor dem Hintergrund des christlichen Frauenbildes, das sie in den genannten Figuren und Szenen konfliktreich austrägt, und deshalb ist es notwendig, dass Kampman auch diese bebildert. Dabei nimmt sie neben Eva auch Lilith auf (Lilith), die in einigen Überlieferungen als Adams erste Frau bezeichnet wird, in der kanonisierten Bibel aber nur als Dämon auftaucht.[4] Bei Lilith tritt die Verbindung von Sinnlichkeit und Dämonie offener zutage, als es in der Auslegung Evas als böse Verführerin der Fall ist, und sie wird zugleich als die emanzipiertere Frauenfigur angesehen. Die Überlieferung schildert sie als Frau von berückender Schönheit, die auf gleiche Weise von Gott geschaffen wurde wie Adam. Deshalb ist sie auch nicht bereit, sich ihm unterzuordnen, sondern verlangt gleiche Rechte. Adam ist damit nicht einverstanden und wünscht sich von Gott eine fügsamere Frau, die er mit Eva dann auch erhält. Lilith wird aus dem Paradies geworfen. Eva ist jedoch nicht nur weniger anspruchsvoll und selbstbewusst, sondern auch viel reizloser. Rasch beginnt Adam Lilith zu vermissen. Die Sehnsucht nach ihr verleitet ihn schließlich, das Paradies zu verlassen und Lilith zu suchen. Das ist sein Exit Paradise. Er findet sie jenseits der Mauer, die den Garte Eden umgibt. Dort stellt sie den Männern nach und tötet sie.[5] Sie ist eine mörderische femme fatale, ein Gespenst der Nacht. Kampmann nimmt diese Überlieferung auf und reflektiert ihre Fortsetzung in den Künsten. So rekurriert Dark Days Lilith etwa auf die Figur der Lilith in Ben Ketais Horrorfilm 30 Days of Night. Dark Days (2010) und auf Lilith als Draculas Tochter im gleichnamigen Marvel Comic (Lilith, Daughter of Dracula, ab 1974). The Vampyr führt dieses Motiv fort und verknüpft es mit Philip Burne-Jones gleichnamigem Bild von 1897, das hier Kampmann als künstlerische Vorlage dient.

Dabei ist auch in der Imagination Liliths ihr Haar ein wichtiges Attribut ihrer dämonischen Verführungskraft. Als sie etwa während der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg auftaucht, warnt Mephistopheles Faust: 

 

„Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren,
Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt.
Wenn sie damit den jungen Mann erlangt, 
So lässt sie ihn sobald nicht wieder fahren.“[6]

 

Kampmann nimmt auch dieses Motiv auf und zeigt Lilith als Medusa, deren betörende Sinnlichkeit in ihren schwarzen Haaren kulminiert, „wie Rabenschwingen schwarz“, sagt auch der Offizier Bellona in einem Drama von Maximilian Klinger: „ich, hab eine Göttin gesehen, eine glänzende, glorreiche, leibhafte Göttin, ich Pigme, ich. [...] Ach ich hab gesehen, ein Weib gesehen. Zwei Augen, glühend wie die Sonne, die dabei so mild sein können, wie sanfter Mondschein. Ich bückte mich tief, und vertraute es meinem Schild. Lange Haare, wie Rabenschwingen schwarz. Dem weißen Nacken herab – ein – ich weiß nicht, wie man das all recht nennt und beschreibt, aber es braust doch in mir.“[7]

Fast möchte man meinen, das alles wäre nur von historischem oder allgemein philosophischem Interesse, wenn einem in den Geschlechterbildern und Märtyrerphantasien islamistischer Krieger nicht dasselbe Brausen und dieselbe innere Unversöhnlichkeit entgegenträte. So hat Kampmann etwa eine Diskussion zwischen einem Sympathisanten des IS und einer Frau verfolgt, die diesen fragte, was denn mit den Frauen geschehe, die sich für den IS einsetzten oder seine Soldaten betreuten, wenn jeden Märtyrer im Himmel 72 Jungfrauen erwarteten. Stünden Ihnen dann entsprechende Männer zur Verfügung oder gehörten sie wenigsten zu denen, die sich der zweihundertfachen Manneskraft eines ins Paradies erhobenen Gotteskrieges erfreuen dürfen? Selbstverständlich nicht, beschied ihr der religiöse Streiter, denn diese Frauen seien unrein und hätten mithin im Himmel keinen Platz.

Für westliche Ohren klingen diese komplementären Wunschbilder von Jungfrau und Hure vielleicht lächerlich, unemanzipiert und seltsam gestrig. Es ist aber gar nicht so lange her, wie uns Kampmanns Bebilderung der dämonischen Verführerin zeigt, dass in der christlichen Tradition ein ganz ähnlicher Konflikt mit der eigenen Sinnlichkeit ausgetragen und in ganz ähnliche Figurationen externalisierten worden ist, wie hier – wenn er überhaupt je überwunden wurde. Deshalb versuchen Kampmanns Arbeiten hier nicht nur aufzuklären, sondern suchen auch den Dialog mit der islamischen Kultur. Das zeigt vor allem die frappante Ähnlichkeit zwischen Sündenfall in 10, 9, 8,... und Propaganda Paradise, die sich über die Farbgebung und Komposition bis in die beschriebenen formalen Details verfolgen lässt. Die Gegenüberstellung beider Bilder zeigt einmal mehr, dass die weibliche Leidenschaft zu dämonisieren und in der Imagination der eigenen Hingabe daran auszuschweifen, zwei Seiten einer Münze sind. Diese Münze wird vom inneren Konflikt geprägt, nicht nur die eigene Leidenschaft anzuerkennen, sondern auch die Kraft, die sie mitunter über uns haben kann. Nichts weniger aber wird verlangt, um ein Mensch zu sein. Indem Kampmanns Schlangen diesen Untergrund der Phantasien von Eva und Lilith, Jungfrau und Hure sichtbar machen, reizen sie nicht zur Sünde, sondern zischen und säuseln für die Aufklärung. 


[1] Maler Müller, „Golo und Genoveva. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen“, in: Mahler Müllers Werke, hrsg. v. Anton Georg Blatt u. a., Bd. III, Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1811, S. 114, (2.Akt, 4. Szene)[Reprint Heidelberg: Lambert Schneider, 1982].

[2] Ebd., S. 142ff. ( 2. Akt, 6. Szene).

[3] Heinrich Heine, „Die Göttin Diana“, in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. VI.1, hrsg. v. Klaus Briegleb, München: Hanser, S. 426-436, hier: S. 433. 

[4] Jesaja 34, 14.

[5] Vgl. im Talmud Eruvin 18b, Pesachim 12b, Schabbat 151b u. Vera Zingsem, LilithAdams erste Frau, Leipzig: Reclam, 2000.

[6] Johann Wolfgang Goethe, „Faust I“, in: Ders., WerkeJubiläumsausgabe, Bd. III, hrsg. v. Albrecht Schöne u. Waltraut Wiethölter, FfM: Insel, 1998, S. 7-164, hier: S. 146, [Verse 4123-4126].

[7] Friedrich Maximilian Klinger, „Simsone Grisaldo. Ein Schauspiel in fünf Akten”, in: Heinz Nicolai, Hrsg., Sturm und DrangDichtungen und theoretische Texte in zwei Bänden, Bd. II, Darmstadt: WBG, 1971S. 1063-1143, hier:1111f. (3. Akt, 2.Szene). 

 

(1) Maler Müller, „Golo und Genoveva. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen“, in: Mahler Müllers Werke, hrsg. v. Anton Georg Blatt u. a., Bd. III, Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1811, S. 114, (2.Akt, 4. Szene)[Reprint Heidelberg: Lambert Schneider, 1982].

(2) Ebd., S. 142ff. ( 2. Akt, 6. Szene).

(3) Heinrich Heine, „Die Göttin Diana“, in: Ders., Sämtliche Schriften, Bd. VI.1, hrsg. v. Klaus Briegleb, München: Hanser, S. 426-436, hier: S. 433.

(4) Jesaja 34, 14.

(5) Vgl. im Talmud Eruvin 18b, Pesachim 12b, Schabbat 151b u. Vera Zingsem, Lilith. Adams erste Frau, Leipzig: Reclam, 2000.

(6) Johann Wolfgang Goethe, „Faust I“, in: Ders., Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. III, hrsg. v. Albrecht Schöne u. Waltraut Wiethölter, FfM: Insel, 1998, S. 7-164, hier: S. 146, [Verse 4123-4126].

(7) Friedrich Maximilian Klinger, „Simsone Grisaldo. Ein Schauspiel in fünf Akten”, in: Heinz Nicolai, Hrsg., Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte in zwei Bänden, Bd. II, Darmstadt: WBG, 1971S. 1063-1143, hier:1111f. (3. Akt, 2.Szene).