Wir sind wie du!

von Ralf Hanselle

 

Das alltägliche Ende des Menschen begann mit einer letzten Erhebung: Ein Mann, so wird berichtet, bat die Götter darum, sich mit einem von ihm selbst geschaffenem Objekt vermählen zu dürfen. „Falls ihr Götter alles geben könnt, wünsche ich, dass meine Frau ein Mädchen aus Elfenbein sei.“ Das alltägliche Ende des Menschen begann, als sich dieser Mann an seiner eigenen Schöpfung vergriff. „Oft“, so heißt es in dieser Erzählung vom Ende, „legte der Mann seine Hände auf sein Werk. Er bildete sich ein, dass es nicht mehr Elfenbein sei. Er gab ihm Küsse, glaubte, dass sie zurückgegeben würden.“ Es ist eine zweitausend Jahre alte Geschichte; die erste Erzählung vom Posthumanismus – vom Menschen und von der Überwindung des Menschseins. Aufgezeichnet wurde sie von dem Dichter Ovid. Im zehnten Buch seiner „Metamorphosen“ stellt der römische Schriftsteller einen Künstler vor, der auf der Insel Zypern lebt und von dem es heißt, dass er in der Abgeschiedenheit seines Atelier eine Statue aus Elfenbein kreiert und sich dann Hals über Kopf in sie verliebt habe: „Mit dem Herzen entbrennt er in Liebe zu dem vorgetäuschten Körper.“

Von hieraus findet das Motiv früher Objektsexualität seinen Weg über Vergil bis zu Goethe, und von Goethe zu E.T.A. Hoffmann oder George Bernhard Shaw. Es ist die Geschichte des begnadeten Künstlers Pygmalion, der sich, von der Welt und dem Leben enttäuscht, mit der Elfenbeinskulptur Galatea die große Liebe seines Lebens erschafft. Lange hielt man dieses Narrativ für die fantastische Fabel eines verrückten Dichters, allenfalls für eine Metapher auf die düsteren Abgründe in Künstler- oder Literatenseelen. Doch das Bildnis der Galatea ist über die Jahrhunderte immer mehr Fleisch geworden: Nach Umwegen über alchemistisch erzeugte Homunculi, nach ersten, von Josef Čapek  angestoßenen Gehversuchen als Roboter und Android, erlebte es seine letzte bahnbrechende Inkarnation im März des Jahres 1978: Mitten im Abendprogramm des Zweiten Deutschen Fernsehens standen damals vier unterkühlt dreinschauende Humanoide: Graue Hosen, rote Hemden, reglose Mimik. Menschmaschinen. Bilder, die uns auf erschreckende Weise zu gleichen schienen. Ihre Glieder bewegten sie im Takt einer abgehackten Choreographie, und mit synthetisch-verzerrten Stimmen knarzten sie einen Satz in die biedere Stille hiesiger Wohnzimmer hinein, der wie ein verspäteter Morgengruß der Galatea zu verstehen war: „Wir sind die Roboter“. Ein Hymnus der Düsseldorfer Gruppe Kraftwerk, gewidmet der ultimativen Menschwerdung unserer zweiten Natur.

Berlin, vierzig Jahre später: Auf einem mit grünen, blauen und gelben Farbsprengseln reich verziertem Estrich in einem sonnigen Gartenhaus am Prenzlauer Berg kniet die Malerin Katrin Kampmann vor einem Stapel großer Aquarellpapiere. In das weiße Büttenpapier haben sich in den zurückliegenden Wochen die Konturen ungewöhnlicher Kreaturen hineingesogen: Gräuliche Wesenheiten mit zumeist anthropomorph erscheinenden Gliedmaßen. Verhuschten Silhouetten von Geschöpfen ohne Gesichtern. Es sind Schattenfiguren – zu Körpern zusammengenähte Farbflächen, die zwar Namen wie „Rita Robot“ oder „???“ tragen, deren Charaktere aber hinter ihren Funktionen zurückgeblieben zu sein scheinen. Nicht selten wirken Kampmanns Kreaturen wie Nachfahren von Pygmalions Galatea, manchmal gar wie Weiterentwicklungen von James Camerons Terminator oder der legendären „Maria-Maschine“ aus Fritz Langs Film „Metropolis“. Vorsichtig zieht Katrin Kampmann eine Figur nach der nächsten aus einem großen Papierstapel heraus. Kenntnisreich doziert sie über die Feinheiten moderner Robotik, über Fragen künstlicher Intelligenz, über unsere menschliche Sehnsucht nach Resonanz. Als einstige Meisterschülerin von Karl Horst Hödicke scheint Katrin Kampmann keine Malerin einer flüchtigen Stimmungen zu sein. Auch sind ihre Arbeiten nicht von kurzfristigen Erregungen oder banalen Themenstellungen bestimmt. Vielmehr scheint sich die Künstlerin über lange Zeiträume hinweg in ihre Sujets und Fragestellungen regelrecht verlieren zu können. Unsere Gegenwart, sagt sie, sei angefüllt mit flüchtigen Bildern; sie aber wolle diesem schnellen Bildkonsum etwas von Dauer entgegenstellen. Noch einmal zieht sie ein paar Aquarelle aus dem großformatigen Papierstapel. Dann tritt sie einen halben Meter zurück und blickt mit einem Ausdruck von Stolz auf ihre neuesten Geschöpfe: „Das also sind die Roboter“, sagt sie und lacht.

In den zurückliegenden Monaten hat sich die 1979 in Bonn geborene Malerin zahlreiche solcher Roboterfiguren als eine Art Gegenüber geschaffen. Manche hat sie aus Filmen oder Science Fiction-Romanen entliehen, andere sind reine Fantasiegebilde. Sie habe viel Spaß bei der Erschaffung ihrer Figuren gehabt. Zunächst habe sie kleine Collagen entwickelt und später die dabei erdachten Grundtypen auf großformatige Aquarellpapiere übertragen. Sieben Roboterbilder sind so entstanden: Drohnenhunde und Terminatoren, Sexroboter und Sklavenmaschinen. „Wir sind die Roboter“ lautet der Titel dieser jüngsten Serie. Vier Worte, die beunruhigend wirken – auch auf Katrin Kampmann selbst: Denn hinter dem von den Krautrock-Pionieren Kraftwerk entliehenem Titel verberge sich die doch irgendwie merkwürdige Vorstellung, dass unsere eigene Kreation eine Art Ich-Bewusstsein entwickelt habe. Der Golem ist zum Mensch geworden. Kampmann kniet sich erneut auf den von der Sonne erhitzten Estrich und schaut jedem ihrer Kreaturen noch einmal lange ins Gesicht. Geschöpf und Schöpferin – wie Mensch zu Mensch. Als lägen auf dem Fußboden nicht mehr Abbilder willenloser Automaten, sondern Wesenheiten mit echtem Bewusstsein. Vielleicht sind es Heiligenbilder des Posthumanismus: Stolz und entschieden jedenfalls schleudern sie uns ihr „Ich“ entgegen. Wie der Gott Jahwe auf dem Berg Horeb stellen sie sich uns als „Ich-Seiende“ vor: Wir sind, die wir sind: Wir sind die Roboter!

An den weißen Wänden hängen weitere Maschinenmenschen: In Acryl und Öl lungern sie in abstrakten Farblandschaften herum. „Auf diesen Bildern zeige ich meine Roboter in Aktion“, sagt Katrin Kampmann und zeigt mit einem Ausdruck ironischer Freude auf Androide, die zwischen bunten Farbschlieren tanzen oder die sich mit beigestellten Menschen amüsieren. Man sieht Leinwände angehäuft mit paradiesischen Restlandschaften – manchmal knallig psychodelisch, manchmal verknäult und ausgefranst. Haltlos und durch das Fehlen jeglicher Zentralperspektive in einen utopischen Raum hineingeschleudert, bahnen sich die Roboter hier ihren Wege durch das farbliche Tohuwabohu. „In diesen Landschaften können die Roboter ihren freien Willen entfalten“, sagt Katrin Kampmann. Schließlich seien es Wesen wie wir: Wesen mit Feierabend und Freizeitverhalten, mit hehren Motiven und banalen Interessen. Wir sind die Roboter!. Wir sind Bildnisse, die Euch gleichen! Gegenübertretungen, die Euren Programmcode in uns tragen!

Genau hier aber liegt das Problem: Denn so sehr die Roboter unsere eigenen Vorstellungen, Wünsche und Absichten spiegeln, so sehr werfen sie all das auch auf uns selbst zurück: „Der Geist in seiner menschlichen Kundgebung“, heißt es etwa in der Beziehungsmystik des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, „ist Antwort des Menschen an sein Du“. Und an anderer, prominenterer Stelle: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Folgt man dieser geheimnisvollen Fährte, dann vollzieht sich der Weg zur Selbstwerdung nie über einen autistischen Rückzug, sondern einzig in der Spiegelung im Anderen. Weder können Roboter da ohne menschliches Gegenüber zum Menschen werden, noch kann ein Mensch in einer von Robotern umlagerten Welt sein ursprüngliches Menschsein noch bewahren. Identitätsbildung ist eben keine Einbahnstraße: Und so werden auch wir im Prozess der voranschreitenden Automatisierung Stück für Stück zu anderen werden. In der Geschichte vom alltäglichen Ende des Menschen werden wir vielleicht wie Pygmalion enden: Verzerrt von den eigenen Leidenschaften und umgestaltet von unseren eigenen Schöpfung.

Katrin Kampmann ist sich dieser Wechselwirkung zwischen Mensch und Maschine sehr bewusst: Leider, sagt sie, spreche man heute noch viel zu selten über unsere vollkommen veränderte Zukunft. Wir dächten die Zukunft von der Gegenwart aus und machten dabei manchen Fehler. Ihre Bildräume aber sind Visionsräume. Vor den über zwei Meter großen Aquarellen kann man die Selbstbehauptungen des künstlichen Menschen geradezu körperlich nachempfinden: „Wir sind die Roboter“, sagt uns da die Galitea-Maschine. Was  wird unsere Entgegnung sein?