Damals und heute

by Dr.Susanne Rockweiler

 

Jenseits der Wissenschaften, die jede Entwicklung auf den verschiedensten Gebieten, in verschiedenen Kulturen, zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte als ein Bild des Fortschreitens der Entwicklung erfasst, gehen Künstler*innen auf eine Art Wissenschaft der Wahlmöglichkeiten ein, in der sich die Rätselhaftigkeit eines Bewusstseins enthüllt und Einblicke gibt auf sonst kaum sichtbare Ebenen; manchmal auch in drei Zeiten: in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 

 In medias res gehen, ohne lange Vorgeschichte, sogleich mitten hinein ins Geschehen. Es geht in der Werkschau der Künstlerin Katrin Kampmann, geboren 1979 in Bonn, um die Odyssee, Science Fiction und Malerei. Sie zeigt rund 30 Arbeiten, datiert zwischen 2003 und 2020. Der Ausstellungstitel steht seit Februar fest: Katrin Kampmann. Odyssee. A Journey it must be.

 In viele Sprachen übersetzt, ist der Begriff der Odyssee zum Synonym für Irrfahrten und Abenteuer geworden. Die Homer zugeschriebene Ilias schildert die Erlebnisse des Königs Odysseus von Ithaka und seinen Gefährten auf der Heimfahrt aus dem Trojanischen Krieg. Sie zählt zu den ältesten und einflussreichsten Dichtungen der abendländischen Literatur. 

 Seit etlichen Jahren sind Literatur, Musik und Film Quellen des Schaffens von Katrin Kampmann. Ihr Werk oszilliert vor allem um das Genre Science Fiction. Goodbye Tomorrow war Titel ihrer Ausstellung 2011 in Beverly Hills, USA, Zeitreise leicht gemacht in 2013 in Wiesbaden, The Future of an Illusion, 2016, in Auckland, Neuseeland, und Wir sind die Roboter, 2018, in Wien, Österreich. 

Ihre Bilder wecken vage Vorstellungen. Die Titel geben eine Leserichtung. Sie können beim Betrachten aufkommende Assoziationen in bestimmte Richtungen lenken. Doch jeder der meint, dass er beim Erkennen des Zitats oder Bezugs, diese Bilder auch dechiffrieren kann, irrt. Es stellen sich eher mehr Fragen als Antworten zu finden sind. Einige Beispiele:

Bei Brave new friends (2018) wird das Gemälde (siehe Seite 55) von einer blau-grün-weiß gehaltenen Gebirgslandschaft bestimmt. Auf der linken Bildseite sind künstlich anmutende Tiere zu sehen, möglicherweise Roboter, drei an der Zahl oder je nach Fantasie auch mehr; am rechten Bildrand ein Junge von hinten. Er nimmt in Höhe und Breite zwei Drittel der rechten Bildfläche ein und dennoch ist er fast unsichtbar, so zart und leicht und schwebend ist er. Er wird in seiner Transparenz und mit seinen geöffneten Armen zum integrativen Bestandteil der Landschaft. Seine Leichtigkeit lässt ihn sorgenfrei und glücklich erscheinen. Ist er ein herangezüchtetes Superkind aus einer Welt, wie sie 1932 Aldous Huxley (1894-1963) in seinem dystopischen Roman Brave new world als Zukunftsvision einer vermeintlich schönen Welt entwickelt hat? Dort sind Armut, Krankheit und Alter abgeschafft, Sex und Konsum Garanten für gute Laune; Monogamie, Privatsphäre, Familie und Geschichte verboten.  Wurden deshalb die Tiere zu seinen neuen Freund*innen? Schwebt er aufgrund der Glücksdroge Soma, die Probleme hinwegfegt? Oder ist der Junge jener Halbwilde, der Shakespeare-Verse rezitiert:

O wonder! How many goodly creatures are there here! 

     How beautiful mankind is! 

     O brave new world, that has such people in’t! 

     (The Tempest (1610-1611), Akt 5, Szene 1)

 

Vielleicht bezieht sich das Werk auch ganz auf Shakespeares The Tempest, der Sturm, das die Grundfrage aufwirft nach der allgemein gültigen Wahrheit über die Beschaffenheit der Welt und des Menschen mit all seinen Widersprüchen: Der Humor, die Trauer, das Deftige, das Gemeine, das Sprühende, das Hohe, das Niedrige. Wahre Kunst, sagt Susan Sontag, vermag uns unruhig zu machen.

So kann das Werk auch Metapher für eine Suche sein: Nach sich selbst, der eigenen Wahrnehmung und der Begegnung mit dem Göttlichen, im Traum oder im Rausch, die auf einen mythischen Trank zurückgehen kann, der im Rig Veda beschrieben wird, der ältesten der vier Gründungsschriften der hinduistischen Gottheiten aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus. Oder? 

Katrin Kampmann ist ganz Malerin. Papier oder Leinwand sind ihre Bild- und Ideenträger und Palimpsest für unterschiedlichste Geschichten in einem einzigen Bild. Aufgrund des Changierens zwischen Abstraktion und Figuration und aufgrund von Überlagerungen ergibt sich Rätselhaftes. Wollte man allein die kompositorischen Prinzipien im Zentrum dieser Werkschau auf einige Worte reduzieren, dann wohl diese: Zufall, Rhythmus, Überblendung, Fragmentierung, Farbe. 

Ihre Bilder sind zufällig in dem Sinne, dass sie eine zufällige Begleiterscheinung des ersten Prozesses sind, und unbeabsichtigt in dem Sinne, dass das, was passiert, nicht vorbestimmt ist. Nicht vorbestimmt, weil sie jede Arbeit mit dem Schütten dünnflüssiger Farbe auf Leinwand oder Papier beginnt. Das Schütten von Farbe ist eine ungeordnete Angelegenheit. Der gleiche Prozess, mit demselben Material und Effizienzgrad, ergibt variable und überraschende Ergebnisse. 

Sie lässt sich darauf ein und nutzt das durch Farbfluss Entstandene. Dann begibt sie sich in den Rhythmus von Drucken, von Sprayen und von Malen. Das Malen im expressiven Duktus. Überblendung (im Sinne von Schichtungen), Fragmentierungen durch Andeutungen, die je nach Auge des Betrachters sichtbar sein können, aber nicht zwingend sind. Jedes Bild ist eine Art Collage unterschiedlicher Techniken und Materialien. Als Material nutzt sie Acryl-, Öl- und/oder Aquarellfarbe, Tusche, Farbspray und Schablonen, sowie Linoleum. Dies zur Herstellung von Monotypien, einer Technik, die Künstler*innen seit dem 17. Jahrhundert praktizieren, indem sie auf Glas-, Metallplatten oder Linoleum zeichnen oder malen und, solange die Farbe noch feucht ist, mittels Presse oder Handreibung seitenverkehrt auf den Bildträger drucken. Das eine geht in das andere über. Man sieht den Einfluss, den die Techniken auf die Bildkomposition haben können. Umgekehrt kann man die Auflösung starrer kompositorischer bildnerischer Strukturen sehen. 

Was ist ihr das Wichtigste? Farbe. Karl Horst Hödicke (*1938), dessen Meisterschülerin sie 2006 an der Universität der Künste in Berlin war, würde sagen: Ein Bild ist nichts anderes als ein Schlachtfeld, auf der Farbe behandelt wird. Katrin Kampmanns Farbwelt ist bunt und doch fragil und traumhaft. Es gibt kaum klare Farbabgrenzungen. Folgt man den Farbspuren, Farbverläufen und Überlagerungen, können sie im Objekt münden, zum Gegenstand werden, oder sich wie ein Schleier darüberlegen. Auch der Untergrund des Bildträgers, das nichtbearbeitete Weiß, kann Kontur werden oder Anzeichen im Sinne von Möglichkeit oder Sujet selbst. 

Kampmanns Farbkunst ist keine abstrakte Malerei, wie bei Katharina Grosse. Bei Katrin Kampmann gibt es Codes und Botschaften, doch dahinter steht immer ein klares Vielleicht, ein Widerspruch, eine Mehrdeutigkeit.  

Mitte März der große Shutdown. Eine Odyssee in unbekannte Gebiete, weltweit: Zuhause bleiben, Homeoffice, Schließen von Läden, Gastronomie, Theater, Konzertsäle, Museen und Landesgrenzen; täglich der Corona-Ticker zu den aktuellen Entwicklungen der Pandemie, Interviews, Statements, gesetzliche Richtlinien; Einblicke und Ausblicke von Virolog*innen; Diskussionen um und über Sicherheit versus Grundrechte, Verschwörungstheorien versus wissenschaftlicher Erkenntnisse. 

Wir sind die Roboter. Ein Werk aus 2018 (siehe Seite 53), Aquarell, Tusche, Linoldruck und Acryl auf Leinwand. Eine bunt-fragmentierte Landschaft in Blau, Grün, Lila, Weiß; mindestens vier sich bewegende Figuren. Betrachten wir das Bild in Leserichtung – am Bildrand links ein Roboter, ganz rechts eine sinnlich tanzende Frau – liegt der fundamentalste Schritt des Menschen der kommenden Evolution vom Homo digitalis zurück zum Menschsein? Oder wird hier ein grundsätzlich neues Verhältnis des Menschen zu seinen geistigen Fähigkeiten verhandelt? Das Bild als Zeichen des Wandels im narrativen Tenor dieser Covid-19-Zeit? Oder ist es nur eine Anspielung auf den Song Die Roboter der Gruppe Kraftwerk von 1978? 

 

     Wir sind die Roboter

     Wir sind die Roboter

     Wir sind die Roboter

     Wir sind die Roboter

     Wir funktionieren automatik

     Jetzt wollen wir tanzen mechanik

 

2004 gibt die Malerin einer ihrer Arbeiten den Titel Odyssee im Weltraum (Seite 14). Hier poppt sofort ein Meilenstein der Filmgeschichte auf: 2001Odyssee im Weltraum (1965-68) von Stanley Kubrick (1928-1999), basierend auf Arthur C. Clarkes (1917-2008) Kurzgeschichte The Sentinel (1951). Ein Kultfilm und Science-Fiction-Klassiker, der die großen Fragen nach Evolution, Menschlichkeit, außerirdischem Leben und Intelligenz stellt, oder nach Ursprung und Ende des Humanen. Er ist mehrfachcodiert - philosophisch, technologisch, religiös und psychoanalytisch – und ein Versuch, fast ohne Sprache in Musik- und Bildräumen zu denken. 

Doch der Film öffnet nur ein kleines Fenster, um Kampmanns Arbeit vielleicht doch im Ansatz lesen zu können. Ihr Hintergrund strukturiert sich vereinfacht gesehen und von oben beginnend, in ein Drittel Weiß, Blau und Grau. Im Vordergrund und Bildzentrum zwei menschliche Wesen; die weibliche Figur sitzt auf ihren Unterschenkeln, blaue Tusche fließt aus ihrem Uterus nach oben zu ihm oder ihr, der stehenden Figur. Er oder sie ist im Begriff nach etwas zu greifen, möglicherweise nach ihr. Doch es entsteht keine Berührung. Zwei, die sich nah sind und doch fern? Die Mimik der beiden lässt sich nicht lesen, die Gesichter sind wie verpixelt (oft ein Charakteristikum von Kampmanns Wesen in ihren großformatigen Bilderzählungen). Berühren wir hier die Vorwegnahme der Corona-Odyssee nach dem Shutdown zweier Liebenden oder Gabriel Faurés (1845-1924) Oper Pénélope, die der Ilias einen neuen Dreh gibt? Ist es die Geschichte des Wartens und der Wartenden?

 Alle warten, doch niemand wartet gern. Wer Geld oder Macht hat, kauft sich in der Regel vom Warten frei. Doch in Zeiten von Covid-19 sind wir alle gleich. Die Frage ist, wie wir warten: resigniert, langmütig oder heiter. Auch Pénélope wartet. Sie ist das Ziel der Odyssee ihres Mannes Odysseus. Sie hält an Odysseus fest, während sie gleichzeitig als Wartende zu neuen Ufern aufbrechen muss. Es ist ein innerlicher Prozess. 20 Jahre dauert die Irrfahrt. Als sie sich wieder begegnen, ist es eine Annäherung zwischen zwei Fremden. Jede Figur muss erst wieder zu sich selbst finden. Damals und heute. 

Visuell erfahrbare Spannung ist Erregung im Bild. Strukturen und Rhythmus hängen eng zusammen. In Jahr ohne Sommer von 2020 (Seite 58), dem großen, zweiteiligen Werk, werden die Wiederholungen bereits vorgestellter, gleicher oder ähnlicher Grundmuster für die Rhythmik zum Inhalt. Und während Strukturen unter dem Aspekt des Flächig-Räumlichen und Abstrakt-Figurativen fassbar werden können, kommt bei der Betrachtung deutlich das zeitliche Moment hinzu und ein Farbsatz in der Abwandlung von positiv zu negativ, von hell zu dunkel, von kalt zu warm, während des ganzen Bildprozesses einerseits intuitiv erscheint, aber gleichzeitig unbeirrt eingehalten wird. Es könnte als Quintessenz der Reise gelten und als Brücke über die Zeit in eine neue Ära.